Am eindringlichsten vor Clara-Schumann-Biographien hat gewarnt — Clara Schumann. 1889 notierte sie im Tagebuch, ihr literarisches Nachleben offenbar bereits vor Augen:
Es ist schrecklich, wenn man Biographen in die Hände fällt; an das Kleinste, Unbedeutendste klammern sie sich an, während doch ihre Aufgabe sein sollte, den ganzen Menschen in seiner Kunst und in seinem Wesen zu schildern,
Gut 30 Jahre später, am 13. September 1919, Claras einhundertstem Geburtstag, erschien in Baden-Badens Tageszeitung nicht einmal eine biographische Notiz. Auch am 11., 12., 14, 15. September war mit keinem Wort von der „genialen Pianistin“ die Rede (wie es unten auf der Tafel heißt), die 10 Jahre in Lichtental gelebt hatte. Und offenbar hat auch niemand 1919 in Baden-Baden ein Gedenkkonzert für Clara Schumann gegeben, obgleich durchaus Konzerte stattfanden. Die Stadt war anderweitig beschäftigt, in einem Land, das aus dem gerade beendeten Krieg verändert hervorgegangen war. Der politische Wandel auch in Baden, noch immer bestehende Versorgungsschwierigkeiten, aber auch der Umgang mit Kriegsrückkehrern und Gefangenen standen auf der Agenda und Clara war mit 100 vielleicht auch einfach noch etwas jung für die Biographen.
An ein Gedenken, wie es uns in seiner Form und seinem Anlass heute ganz selbstverständlich erscheint, war jedenfalls heute vor 100 Jahren nicht zu denken. Denn auch Gedenken hat seine Zeit und seine Umstände.
Denken wir also ein wenig über die näheren Umstände unseres Gedenkens hier und heute nach.
Clara Schuman hat von 1863-1873 mit ihren Kindern jeweils für einige Monate im Sommer in diesen Räumen gelebt – oder besser: in diesem Haus, wie es vor einer später erfolgten Aufstockung mit einem ganz ähnlichen Grundriss damals schon bestand. Einiges, was wir über Claras Wohnen und Leben in Baden-Baden wissen, wird im Programmheft des heutigen Konzerts dargestellt.
Einiges findet sich allerdings dort auch nicht. Zum Beispiel die Notiz aus dem Jahr 1879, in der Clara anlässlich des Verkaufs des bereits länger nicht mehr genutzten Hauses in Baden-Baden Bilanz zieht:
Depesche aus Baden-Baden, daß unser Haus endlich für 17000 Mark verkauft ist – zu 24000 Mark hatte ich es gekauft, noch an 6000 hineingewandt, also mit großem Nachtheil es jetzt verkauft.
13.000 Mark Verlust und Claras Geschäftssinn, der sich hier zeigt, wir denken lieber an beides nicht, wenn wir ihrer heute gedenken.
Ähnlich der Krieg, nicht der eben angesprochene Erste Weltkrieg, sondern ein voriger. Wir wissen, dass Clara in diesem Haus 1870 mit Schaudern tagelang den Geschützdonner aus Straßburg gehört hat, und dass sie den preußisch-französischen Krieg 1870/71 mit einem, wie sie schreibt, „blutenden Herz“ verfolgt hat, vor „all dem Wehe, dass dieser Krieg so vielen bringt“ und mit großem Mitleid für die Vertriebenen die sie in Baden traf, wie sie am 14.9.1870 an Joseph Joachim schrieb – genau einen Tag nach ihrem 51. Geburtstag. Auch daran denken wir nicht zuerst, wenn wir ihrer heute gedenken.
Warum erwähne ich die rechnende Clara, die Clara, der vor dem Krieg schaudert, dennoch? Weil wir auf diese Weise sehen, dass Gedenken nicht nur auf Zeit und Umstände angewiesen ist, sondern auch wählerisch ist. Es will kein Beitrag fürs Geschichtsbuch sein. Es will auswählen, hervorheben — und links liegen lassen. Denn es will ehren. Oder, vorsichtiger formuliert: Es will jedenfalls nicht ohne Ehre für diejenige ausgehen, derer gedacht wird. Wählerisch wie es ist, scheint Gedenken also erst recht ungeeignet für den ganzen Menschen, den Clara ihren Biographen in dem eingangs zitierten Text zur Aufgabe machen wollte.
Aber Gedenken umfasst nicht nur in dieser Hinsicht zu wenig vom ganzen Menschen. Es umfasst auch in anderer Hinsicht zu viel. Denn es involviert über die Geehrte und über die Tatsachen ihres Lebens hinaus immer auch uns.
Denn Gedenken ist über das bloße Konstatieren der Lebensgeschichte hinaus immer auch Hineinversetzen. Das zeigt sich äußerlich darin, dass sich das Gedenken an die Orte und zu den Dingen versetzt, die im Leben der Geehrten von Bedeutung waren.
So wie wir heute uns hier in dieses Haus versetzt haben. Dieser Ort regt uns zur Vorstellung des Salons an, der unten in diesem Haus existierte, mit grauer Tapete, mit goldenen Streifen, davor Nachbildungen der Venus von Milo und des Apoll von Belvedere, ein Raum, der den Blick auf das Porträt der Hausfrau im Nebenraum durch die Flügeltür eröffnete – und schon damals auf Oos und Allee, von Clara vom Balkon aus bekanntlich gerne betrachtet.
Dieser Ort regt uns an, nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern uns vorzustellen, wie es gewesen sein mag, als Johannes Brahms in diesem Haus zu Claras 47. Geburtstag im Jahre 1866 eigene „bunt gemalte“ Karrikaturen „zerstreut an der Wand“ aufgeklebt hatte.
Und natürlich regt dieser Ort die Vorstellung von Claras Musizieren in diesem Haus an. Von den Beschreibungen, die Eugenie Schumann ausführlich und lebhaft vom täglichen Üben ihrer Mutter gegeben hat, können wir hier zur Vorstellung davon übergehen, wie es gewesen sein könnte, wenn eine Tonleiter so gespielt wurde, dass gemäß dem Bericht Eugenies den Zuhörenden zum Weinen zu Mute wurde.
Und natürlich stellen wir uns auch das Leben der Kinder Claras in diesem Haus vor, denn zuallererst war das Haus ein Ort des vorübergehend gemeinsamen Familienlebens, ein Ort glücklicher Sommer, in einem für die längste Zeit des Jahres durch örtliche Trennung geprägten Leben der Familie. Wie war es, den Geburtstag der Mutter am 13. September zu feiern und zugleich zu wissen, dass damit unweigerlich die Konzertsaison und der Abschied nahte, wie es uns ebenfalls Eugenie Schumann berichtet hat.
Das Gedenken als vorstellendes Hineinversetzen umfasst so und so ähnlich also mehr als nur den ganzen Menschen derer, die geehrt wird. Im Vorstellen umfasst es immer auch die Gedenkenden. Diese gelangen so oftmals gar in den Anfang einer Beziehung zur Person derer, der sie gedenken. Und dies wiederum kann sie herausfordern, sich selbst und ihr Leben ins Verhältnis zu derjenigen zu setzen, derer sie gedenken. Clara bot und bietet hier bekanntlich mannigfaltige Möglichkeiten, sich selbst aus ihr heraus zu verstehen.
Einen Prototyp solchen Verstehens haben wir in dem Kindertagebuch, welches der Vater Claras bekanntlich von Geburt an in ihrem Namen und aus der Perspektive des Wunderkindes führte bis Clara das Schreiben selbst übernahm. Dieses Tagebuch Wiecks ist nicht nur Projektion, sondern über die Projektion zurück gespiegelt, immer auch Selbstverstehen des Vaters.
Claras Selbstbehauptung als Frau in einer von Männern, darunter ihrem Vater und ihrem Ehemann, dominierten Welt ist eine andere – im 20. Jahrhundert vielfach gepflegte – Weise, in ihrer Person etwas zu sehen, was zurückschlagen kann auf das Verständnis des eigenen Lebens und der Welt, in der dieses gelebt wird.
Unter den zum Selbstverstehen anregenden Beziehungen zu Clara möchte ich Ihnen jedoch heute eine andere anbieten. Wer Claras Korrespondenz und Tagebucheinträge um ihre Geburtstage herum sichtet, wird eine eigentümliche Struktur dieser Texte entdecken. Äußerst knappe und sachliche Bemerkungen zum festlichen, zum persönlichen Anlass selbst gehen unmittelbar über in engagierte Schilderungen über Musikalisches, das man am Festtag zur Aufführung gebracht hatte oder gehört hatte oder das man ihr in Notenform zum Geschenk gemacht hatte.
Stellvertretend für viele derartige Passagen möchte ich Ihnen dies anhand eines Briefes der gerade acht gewordenen Clara an ihre Mutter zu Gehör bringen:
Liebe Mutter.
[…] Zu meinem 8chten Geburtstag bin ich auch beschenkt worden, von meiner guten Bertha und von meinen guten Vater, Von meinen guter Vater chab ich ein Wunderschönes Kleid bekommen, und von meiner Bertha hab ich ein Aschkuchen ein Pflaumkuchen und ein recht schönen Strikbeutel bekommen. Auch spilte ich ein Concert aus Es dur von Mozart, was du auch gespielt hast. […] Es ging recht gut und ich habe gar nicht gestokt. Nur meine Kadänz wollte nicht gleich gehen, wo ich eine chromatische Tonleiter 3 mahl spielen mußte, Angst hatte ich gar nicht, Das Klatschen hat mich aber Verdroßen.
Schon als Kind weist sie also von ihrem Geburtstag, von sich weg auf den Vollzug ihrer Kunst, oder besser, sie bezieht sich auf sich selbst vor allem anderen als Vollziehende ihrer Kunst.
Die eingangs zitierte Formulierung der späten Clara Schumann zeigt Ähnliches. Es geht ihr bei sich um „den ganzen Menschen“ nicht schlechthin, sondern „in seiner Kunst“. Zu dieser Figur des von sich Wegweisens auf den künstlerischen Vollzug passt denn auch, dass die späte Clara Schumann nichts mehr aus sich neu hervorbringen, nicht mehr komponierend schaffen wollte. Kein Selbst, das Neues schuf, wollte sie mehr sein, sondern ganz sein in der Reproduktion, hingegeben an ein Werk, das selbst ebenfalls nicht bleibt, das Konzert.
Wie könnten wir uns in Beziehung zu dieser Clara bringen, die von sich selbst weg verweist auf ihr Konzertieren, selbst an ihrem Geburtstag? Es ist naheliegend: Einige unter uns sind in der glücklichen Lage, dieses Aufgehen in der reproduktiven Kunst des Konzerts zur eigenen Sache zu machen – zum Glück aller anderen, die dies nicht vermögen.
Und diese anderen? An uns ist es wohl, den komplementären Versuch zu unternehmen, ganz im Hören auf die Musik aufzugehen. Gelänge uns dies, hätte es übrigens mehr mit einem ehrenden Gedenken an Clara zu tun als man zunächst vielleicht denkt. Denn sie war eine strenge und erbitterte Kritikerin von Zuhörenden, die nicht hörten. Vor dieser Königin spiele sie gewiss nicht mehr, hat sie 1872 notiert, also gegen Ende der Badener Zeit, als ihr an der englischen Queen Victoria deren halbherziges Zuhören im Konzert missfiel.
Hören wir also ganz auf die Musik, die gleich zur Aufführung kommt – Claras eigenem Aufgehen im Konzertieren auf diese Weise heute und hier gedenkend.
Aber hören wir zuvor noch die Geburtstagswünsche aus der Distanz, die vor ziemlich genau 159 Jahren und 2 Tagen Johannes Brahms in einer Weise formuliert hat, die auch für uns heute noch gelten mag. Er schrieb an Clara:
Den innigsten Gruß sende ich dir zu deinem Geburtstage.
Ich wünschte vor allem, Du wärest hier, es wäre schon gemütlich; da das nun aber doch einmal nicht ist, so wünsche ich, all die freundlichen Gedanken, die an dem Tag zu dir ziehen, mögen dich recht froh machen.
(Arne Moritz, anlässlich des Festkonzerts am 13.9.2020 im Clara-Schumann-Haus, Baden-Baden mit Werken von Clara und Robert Schumann, Frédéric Chopin, Fanny Hensel, David Carl Heinz und Charlotte Kaiser, musikalische Leitung: Prof. Sontraud Speidel, Mitwirkende: David Carl Heinz, Franziska Lee, Charlotte Kaiser, Alexander Kozarov, Dennis Kozarov, Sontraud Speidel, Georg Schäfer, Alma Henrike Unseld)